Freitag, 16. Juni 2017

Das kann doch jetzt bitte nicht ernst gemeint sein!

Mit „Nothing About Us Without Us Remains” und “Schädel X” widmen sich gleich zwei Abende dem deutschen Völkermord an den Nama und Herero und den Auswirkungen, die er bis heute hat. Sie kommen zu höchst unterschiedlichen Ergebnissen.

Nothing About Us Without Us Remains
© Luzi Renner-Motz
von Luzi Renner-Motz

Die kleine namibische Fahne auf ihrem Rednerpult hängt auf Halbmast. Michaela Maxi Schulz hisst sie überbehutsam mit den Fingerspitzen, pustet dann dagegen. Sie richtet sich wieder ans Publikum. „Ich bitte an dieser Stelle im Namen der Bundesregierung das namibische Volk um Entschuldigung. –Verzeihung! –Versöhnung!“ Das Publikum lacht. Über den Versprecher, der die postkolonialen Verhandlungen zwischen Herero und Nama und der Bundesregierung auf den Punkt bringt, in denen die Entschuldigung bis heute aus Angst vor Reparationsforderungen ausbleibt. Über die Peinlichkeit der Situation. Über den hoffnungslosen Rassismus, mit dem die Rede der Staatsministerin im Auswärtigen Amt gespickt ist, die hier reenactet wird.

Sprechen im Hier und Jetzt

Die Lecture Performance „Nothing About Us Without Us Remains. Eine Rede“, die das Medien-, Kultur- und Bildungsnetzwerk afrotaktv cyberNomads gemeinsam mit dem Theaterkollektiv anne&ich veranstaltet, ist installativ zu denken: Plakate, die über die Forderungen von Herero und Nama aufklären, ein Film zum Thema im Nebenraum, an eine Seitenwand projizierte Fotos und eine abschließende Podiumsdiskussion begleiten die Performance im Agora Rollberg. Alles in einem zuvor als Schwarz beanspruchten Raum: Hier stünden Weiße Menschen auf einer Schwarzen Bühne, nicht, wie sonst, andersrum, erklärt Michael Küppers-Adebisi von afrotaktv zu Beginn der Veranstaltung. Ein wichtiger Sprechakt, der funktioniert. Interessiert und offen untersucht das Format, welche Ästhetik in diesem Schwarzen Raum wie funktioniert. Ob etwa Dinge in einem Schwarzen Raum witzig sein könnten, die in einem Weißen rassistisch wären, fragt sich Regisseur Anton Kurt Krause. 

Nothing About Us Without Us Remains
© Luzi Renner-Motz 
Sie können es. Die Prämisse der Normverschiebung hin zur Blackness eröffnet viele Räume, erschafft viele Möglichkeiten. Von vornherein wird klargestellt: Hier sprechen keine schuldbewussten Deutschen über einen Völkermord, den sie selbst nicht begangen haben. Hier wird vielmehr eine offene Diskussion geführt, im Hier und Jetzt, über die aktuelle Situation, in der jede Person für sich selbst sprechen kann, aus ihrem eigenen Erfahrungshorizont heraus, im Wissen um dessen Begrenztheit. Der postkoloniale Konsens der Veranstaltung ist hier durchaus ein produktiver, er stellt eine Basis, von der aus man schnell zu den aktuellen, relevanten Fragen übergehen kann. Ohne am Schuldkomplex, an komplizierten historischen Fakten oder an persönlichen Anekdötchen hängen zu bleiben.

Wir alle kommen aus verschiedenen Richtungen

Nothing About Us Without Us Remains
© Luzi Renner-Motz 
2011 sprach die Staatsministerin Cornelia Pieper in der Charité zum Anlass der Rückführung von 20 in der Kolonialzeit nach Deutschland gebrachten namibischen Schädel. Ihre Rede hat das Theaterkollektiv anne&ich zu einer Performance verarbeitet, die in ihrer Überspitzung auch denen, die mit der Thematik nicht so vertraut sind, verdeutlicht, wie absurd, wie falsch die Ansprache ist. anne&ich hat diese Arbeit, die eigentlich „Remains. Eine Rede“ heißt, ursprünglich nur mit Weißen Stimmen recherchiert. Als sie anschließend mit afrotak in Verbindung getreten seien, eigentlich wegen eines unautorisiert verwendeten Videos des Vereins, hätten sie viele Dinge im Modus des „hätte machen müssen“ neu gedacht, erzählt Krause. Übertrieben ist Vieles am einstündigen Reenactment, das Schulz trotz ihres antiheroischen Bühnencharakters mit viel Charme und Selbstironie meistert. Aber die Grenzen zwischen Fakt und Fiktion verwischen trotzdem, denn übertrieben, wenn man so möchte, war auch Piepers Rede. 


In der anschließenden von Adetoun Küppers-Abedisi moderierten Podiumsdiskussion ist Zeit für Informationen, die vielleicht noch nicht übermittelt wurden, für weitere Denkanstöße, auch für Rückmeldung zum Format der Lecture Performance. Wer sich meldet, wird von Küppers-Abedisi als Streber bezeichnet. Aber das tut der Diskussion keinen Abbruch. Auch, weil die Veranstaltung sowohl über das Performing Arts Festival Berlin läuft, als auch für das Eröffnungsfest des Berlin Global Village, das erst mal nichts mit Theater zu tun hat, ist von vornherein klar: Wir alle kommen aus verschiedenen Richtungen und wissen verschiedene Dinge, und wenn wir etwas nicht verstehen, dann fragen wir eben.

Der Schädel spricht

Alles, was so gut funktioniert bei „Nothing about us without us remains“, geht am nächsten Abend bei „Schädel X“ („Skull X“) schief. Auch hier steht ein Weißer auf der Bühne. Auch er spricht für sich selbst. Gleichzeitig jedoch versucht er, einen namibischen Schädel sprechen zu lassen, ein Familienerbstück, das er seit Jahren loszuwerden versucht. Was Performer Konradin Kunze von sich selbst zu erzählen hat, ist uninteressant und für die postkoloniale Debatte, die die Performance zu beleuchten behauptet, völlig irrelevant. Was er dem Schädel in den Mund legt, ist stereotyp(isierend), inkonsequent und ohne jede Rechtfertigung.
Im frühklassizistischen Gebäude des Tieranatomischen Theater der Humboldt-Universität sitzen wir in steil ansteigenden Rängen und schauen auf den kleinen Schädel hinab, der dort liegt, wo früher seziert wurde. Die Besucher_innen werden instruiert, die bereitliegenden Kopfhörer aufzusetzen, über die wir alle Sounds der Performance hören. Kunze erzählt uns anekdotenhaft seine Familiengeschichte, in der seit einhundert Jahren ein Schädel vererbt wird, den ein Großgroßonkel als Missionar in Namibia von einem „chief of a tribe“ zum Dank erhalten haben soll. Als das erste Gesicht einer PoC passgenau auf den Schädel projiziert wird, der wiederum mit einer Livekamera vergrößert auf die Rückwand übertragen wird, denkt man sich zum ersten Mal, dass das doch jetzt bitte nicht ernst gemeint sein kann. Der Schädel wird buchstäblich zur Projektionsfläche für Fotos und Videos, ein Mikro in seinem Inneren liefert Sounds für geloopte Soundcollagen, die vor allem anstrengend sind und in ihrer Überdramatisierung an n-tv-Dokumentationen erinnern.

Schädel X
© Luzi Renner-Motz 
Ein Abend, der Unbehagen provoziert, Schuldgefühle, Scham

Flinn Works, das Kollektiv hinter der von Sophia Stepf inszenierten Arbeit, geht einen riesigen Umweg bei dem Versuch, uns zu sagen, dass da etwas gewaltig schiefgelaufen sein muss, wenn Kunze noch immer im Besitz eines Schädels aus der deutschen Kolonialzeit ist. Und verrennt sich dabei hoffnungslos. Auf einer akademischen Metaebene liest Kunze aus rassenkundlichen Lehrbüchern, lässt uns fast kein Sounddokument hören, das nicht irgendwie verzerrt und mit disharmonischen Klängen überlagert ist, fordert uns sogar mit der Stimme des Schädels auf, aus Protest gegen das Reenactment den Saal zu verlassen, statt den direkten Weg zu gehen und einzusehen: Das hier ist nicht meine Geschichte.
Wer für wen sprechen darf, kann und soll ist eine hochaktuelle Debatte im deutschsprachigen Theater. Dem üblichen Kodex, dass alle idealerweise für sich selbst sprechen, scheint Flinn Works abgeneigt zu sein. Der Abend provoziert Unbehagen, Schuldgefühle, Scham für die deutsche Vergangenheit. Um die Gegenwart geht es wenig, erst recht nicht um die der Herero und Nama. Und das macht alles, was da auf der Bühne getrieben wird, so furchtbar rückwärtsgewandt und unproduktiv. 

Schädel X
© Luzi Renner-Motz 
Etwas falsch machen, um zu zeigen, dass es falsch ist

Es geht hier nicht um Postkolonialismus, um Fragen nach Entschädigung, um Hinterfragen sogenannter Entwicklungszusammenarbeit. Es geht um Konradin. Darum, dass Konradin sich vorstellen kann, wie sein Onkel den Schädel ausbuddelt. Darum, wie Konradin in der U-Bahn sitzt und sich nicht traut, den Schädel einfach liegenzulassen. Darum, wie Konradin seinen eigenen Schädel nach seinem Tod nach Namibia schicken will, an die Westhoek Universität, für wissenschaftliche Untersuchungen (ganz abgesehen davon, dass es eine Universität mit diesem Namen nicht gibt – was unterstellt er da eigentlich der wohl gemeinten University of Namibia?).
Wenn er für die DNA-Untersuchung den Schädel anbohrt, ihn ausmisst, aus alledem auch noch eine Soundcollage erstellt, die es dann für uns auf die Ohren gibt, ist das nicht mehr nur Reenactment (das selbst schon ein zutiefst zweifelhaftes Mittel wäre). Das ist Handlung. Respektlose Handlung. Handlung, von der Flinn Works weiß, dass sie falsch ist. Von deren Falschheit uns zu überzeugen, das Ziel des Abends ist. Aber niemand von uns wäre hier, wenn wir nicht längst davon überzeugt wären. Flinn Works meint, auf der Bühne alles falsch machen zu müssen, was in den letzten Jahrzehnten falsch gemacht wurde, um uns mit der Nase darauf zu stoßen, dass das falsch ist. Das ist Konsenskultur, aber diesmal leider keine produktive. 
Schade, dass „Nothing about us without us remains“ beim PAF nur ein einziges Mal gezeigt wurde. Ebenso schade, dass Schädel X drei Vorstellungen hat.