13 Touren gibt es beim PAF, in denen Freie-Szene-Experten Zuschauer*innen durch den Überforderungsdschungel des Angebots begleiten. Tour 1 nennt sich Gefühlstour. Erwartet wurden sechs Menschen, um mit Christine Ertl-Shirley die Gefühlswelt der Freien Szene Berlins zu erkunden. Leider kam nur eine Teilnehmerin. Ein Erlebnisbericht von Klaudia Lagozinski.
© Klaudia Lagozinski |
Überpünktlich und erwartungsvoll stehe ich in Kreuzberg und starre auf die großen Fenster des Möbel-Discounters POCO-Domäne. Ich warte auf meine Tourgruppe und wundere mich, wo genau die Performance „I am reality“ der Gruppe die elektroschuhe stattfinden wird. Um kurz nach 17 Uhr ziehen ein Mann im schwarzen Anzug und eine Frau im Brautkleid eine in Folie gehüllte Matratze über den Asphalt, während sie sich lautstark streiten und so die Aufmerksamkeit von Passanten auf sich ziehen. Die Performer zeigen den Zuschauern, was man alles mit einer Matratze machen kann: sich auf sie schmeißen, dagegen schlagen, sie aushöhlen und sich darin verstecken.
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Am Ende sind sie beide in der Matratze verschwunden, nur ihre Hände schauen gelegentlich raus, während ihre Klamotten aus der Matratze geworfen werden. Sie reißen die Matratze links und rechts auf, schieben ihre Köpfe durch, auf denen nun eine blonde Lockenperücke sitzt. Viele Themen werden in diesen 20 Minuten im Schnelldurchlauf oberflächlich angerissen, mehr passt anscheinend nicht rein.
Nun versuche ich mit Christine die anderen Tour-Mitglieder ausfindig zu machen. Ohne Erfolg. Es geht zu Fuß über den Landwehrkanal in knappen 10 Minuten zum HAU1. Für eine Cola ist auch noch Zeit, bevor wir zur “Müllermatrix” können.
Die Müllermatrix, eine Installation von Interrobang, ist vor dem Eingang des Zuschauerraums des HAU2 aufgebaut. Im Foyer steht eine Reihe von Schreibtischen, jeder gleich bestückt: Links ein schwarzes Telefon, verbunden mit Kopfhören. Rechts eine Lampe, die nach Belieben ein- und ausgeknipst werden kann. Mittig Block und Kugelschreiber. Ich drücke den roten Knopf, Heiner Müller ist am Apparat. Das Prinzip ist relativ simpel: Man wählt zwei bis vier Gesprächsmöglichkeiten, indem man die von Müller angesagte Taste drückt. Die Mensch- Maschine erzählt mir von Frauen, Kunst und Zigarren. An manchen Stellen kann man mit dem Drücken der Taste 7 das Gespräch beenden. Als Müller fragt, ob ich einer seiner Thesen zustimme und ich „Nein“ drücke, antwortet er: „Dafür weißt du zu wenig“. Alles klar, Heiner.
Ich würde ja gerne was dazulernen. Aber das fällt schwer, weil zuerst ein Kleinkind auf dem Sofa nebenan brüllt, dann geht ein Feueralarm im HAU los. Plötzlich sind die Telefone mit der Heiner-Mensch-Maschine tot.
© Klaudia Lagozinski |
Nun geht es vom HAU mit der U-Bahn Richtung Naturkundemuseum, dann mit der Tram weiter zur Brunnenstraße. Christine erzählt mir, dass das ACUD-Theater einen charmanten Kinosaal hat, früher ein besetztes Haus war und dass auf dem Dach gute Partys stattfinden. Wir haben noch ein wenig Zeit, also holen Christine und ich uns Falafel und Baklava bei einem kleinen, hippen Imbiss.
Eine Treppe führt aus dem bunten Hof zum Theater, entlang an tapetenfreien Wänden voller Poster. Oben führt eine Tür zur Theaterkasse, rechts vor ihr eine enge Tür zum Zuschauerraum, der ganz schwarz ist und knappe 100 Menschen fasst. Er ist gut gefüllt.
Fröhliche Stummfilmkino-Musik mit Klarinette und Klavier begleitet Lena Binski in „Die 7 Leben des Fräuleins B.“ durch den Abend. Eigentlich will Fräulein B. doch nur einen Suizid begehen. Das allerdings kann kompliziert sein. Nachdem Gift, Erhängen und Erschießen nicht geklappt haben, scheint Fräulein B. eine bombensichere Möglichkeit gefunden zu haben: Sie legt sich auf die Gleise. Um sich nicht dreckig zu machen, breitet sie ein weißes Tuch unter sich. Sie rückt ihren Arm zurecht, kneift die Augen zu. Macht sie wieder auf. Ist verwirrt. Der Zug ist vorbeigefahren – auf einem anderen Gleis.
Die Performerin hat nicht den Anspruch, die Welt durch ihren Auftritt zu ändern, sondern nimmt den Zuschauer in ihre kleine, eigene Welt mit. In ihr Zimmer auf der Bühne: Links ein Briefkasten, in der Mitte ein schwarzer Tisch mit Stuhl, rechts ein Ständer mit einem Vogelkäfig. Drin ein Vöglein, das aber Fräulein B. konsequent ignoriert, egal wie nett sie es anpfeift. Auch der Briefkasten bleibt leer, und so wirft sie einfach selber einen Brief ein, um sich damit selbst zu überraschen und ihn mit ausschweifenden Lachern zu lesen.
Fräulein B. wirkt sympathisch, in ihren Suizidversuchen unbeholfen und dennoch elegant in ihrem schwarzen Samtkleid. Gespielte Tollpatschigkeit kontrastiert sie mit pointierter und kontrollierter Gestik und Mimik: Fräulein B. spielt mit ihren Augen. Sie schafft es, Emotionen nur mit ihnen herzustellen, die hell aus der dunklen Umrandung leuchten, ohne Stimme, ohne Bewegung des restlichen Gesichts.
Als sie am Ende weiße Rosen austeilt und mit Winken die Zuschauer auffordert, sie wieder zu ihr auf die Bühne zu werfen, tut man das gerne. Am Ende bekommt die sympathische Performerin sogar noch echte Blumen in die Hand gedrückt – völlig verdient! Nach dem anfänglichen Chaos, Kindergeschrei und Feueralarm gehe ich dank Fräulein B. zufrieden nach Hause.