Donnerstag, 15. Juni 2017

„Heute bin ich froh, dass ich mich nicht entschieden habe“

Nina Tecklenburg von Interrobang über ihre künstlerische und theoretische Arbeit, Partizipation und die deutsche Theaterlandschaft. Im Rahmen des Festivals wird die interaktive Audioinstallation „Die Müllermatrix“ von Mittwoch bis Sonntag im Foyer des HAU2 kostenlos zu erleben sein.

 
Nina Tecklenburg
© Michel
Heiner Müller ist am Apparat. Seine Worte stocken, holpern. Verschiedene Stimm- und Tonqualitäten sind deutlich hörbar. Er äußert sich zu verschiedenen Themen der Gegenwart. Europa, Flüchtlingskrise, Theater. „Es gibt ja da, äh, die Notwendigkeit, Texte neu zu lesen und auch manchmal neu zu schreiben, auch zu korrigieren, damit man mit ihnen was anfangen kann in unserer Realität“, sagt er einmal.
Interrobang nehmen ihn in ihrer interaktiven Audioinstallation „Die Müllermatrix“ beim Wort. Beim Performing Arts Festival Berlin (PAF) zeigen sie die Arbeit erneut, die im vergangenen Jahr als Teil des Heiner Müller Festivals am Hebbel am Ufer (HAU) entstand. Ich treffe Nina Tecklenburg von Interrobang vorab zu einem Gespräch über ihre künstlerische und theoretische Arbeit, Partizipation und die deutsche Theaterlandschaft. Ihre berufliche Praxis strotzt nur so vor Interdisziplinarität. Sie ist freischaffende Theatermacherin, promovierte Theaterwissenschaftlerin, schreibt regelmäßig für Fachzeitschriften und ist Gründungsmitglied von Interrobang. Hier wirkt sie in den Bereichen Dramaturgie, Regie und Performance.

In einer langen Reihe stehen im Foyer des HAU 2 acht Einzeltische und Stühle, jeweils mit einem Telefon bestückt. Über diese programmierten Telefone können die Besucher*innen mit dem verstorbenen Dramatiker Kontakt aufnehmen. Über die Wahltasten des Telefons kann mensch das Gespräch mit dem Müller-Cyborg individuell steuern. Aus über 180 Audiofiles programmierte die Gruppe gemeinsam mit dem Soundkünstler Georg Werner eine stimmliche Collage, die Heiner Müller wiederaufleben lässt. Sowohl Interviewmaterial als auch vertonte literarische Texte wurden dafür neu zusammengesetzt, Audiomaterial aus mehr als zwei Jahrzehnten zu einer Art „Hyper-Text“ gekoppelt. So lassen sie ihn aber auch über Themen sprechen, zu denen er sich zu Lebzeiten nur wenig geäußert hat wie zum Beispiel Feminismus. Das Telefon wird zur Geistermaschine.
Interrobang arbeiten häufig mit solchen partizipativen Settings, die ohne die aktive Teilnahme des Publikums nicht funktionieren. Eine Auseinandersetzung mit den Grenzen und Möglichkeiten von demokratischen Prozessen zieht sich daher wie ein roter Faden durch ihre Arbeiten. Während in der „Müllermatrix“ eine Stimme aus der Vergangenheit plötzlich über zeitgenössische Fragestellungen spricht, beschäftigen sich andere ihrer Arbeiten mit utopischen oder dystopischen Zukunftsentwürfen. In ihrer Arbeit „Preenacting Europe“ zum Beispiel versuchen sie mithilfe unterschiedlicher partizipatorischer Theatermittel eine Art Versuchsaufbau für ein zukünftiges Europa.

Regisseur und Autor Till Müller-Klug ist ebenfalls Gründungsmitglied der Gruppe. Nachdem die beiden in der Vergangenheit immer wieder gemeinsam Projekte realisierten, entschlossen sie sich vor etwa sechs Jahren, offiziell unter dem Namen Interrobang zusammenzuarbeiten. In der Gruppe schreiben die beiden die Konzepte und Anträge, haben quasi die künstlerische Leitung inne. In der aktiven Probenphase komplettiert dann meist der ehemalige Tänzer Lajos Talamonti, heute ebenfalls interdisziplinär am Theater tätig, den festen Kern des Teams.
Neben der praktischen Theaterarbeit hat Nina Tecklenburg auch einen akademischen Hintergrund. Nach ihrem Studium der Theaterwissenschaft folgt eine Promotion über performative Erzählformen. Der Druck zwischen Kunst und Wissenschaft wählen zu müssen, sei damals besonders hoch gewesen. „Heute bin ich froh, dass ich mich trotzdem nicht entschieden habe“, sagt sie. Und ihre aktuelle berufliche Situation beweist, dass Theorie und Praxis sich durchaus befruchten. Doch schon während des Studiums arbeitete sie immer wieder praktisch, auch mit Größen der Szene wie Gob Squad oder She She Pop.

Die Müllermatrix
© Dorothea Ruch
Inzwischen gehören Interrobang selber zu den etablierteren Gruppen in der Freien Theaterszene. Regelmäßig zeigen sie Arbeiten am HAU oder in den Sophiensaelen. Trotzdem werde es zunehmend schwieriger, Förderungen zu bekommen. Die Konkurrenz, besonders in Berlin, wachse kontinuierlich. Langfristig sei es deshalb unabdingbar, die Freie Szene finanziell besser auszustatten. Das Prinzip, dass viele der gezeigten Künstler*innen beim PAF, und in erster Linie die weniger etablierten, ihre Arbeiten umsonst zeigen müssen, sieht sie deshalb durchaus kritisch. Für sie ein weiteres Symptom dafür, dass die Szene mehr Geld braucht, um weiterhin auf einem professionellen Niveau Theater machen zu können.

Und was ist mit dem Stadttheater? Beim Thema Stadttheater versus Freie Szene ist Nina Tecklenburg diplomatisch. Die starke Trennung hält sie für überholt, plädiert für mehr Vermischung. Trotzdem verfügen die Stadttheater im Vergleich noch immer über wesentlich mehr finanzielle Mittel. Das sei in Anbetracht des starken Wachstums der Szene in den vergangenen Jahren unzeitgemäß. Interrobang haben aber bereits Stadttheaterfahrung: Im Rahmen des Residenzprogramms am Schauspiel Leipzig realisierten sie dort zwei Koproduktionen. Relativ einmalig in Deutschland ermöglicht dieses Programm, freien Theaterschaffenden die Infrastrukturen eines Stadttheaterbetriebs zu nutzen. Für sie durchaus ein Zukunftsmodell für die deutsche Theaterlandschaft. Schließlich räumt sie aber ein: „Wenn ich mich entscheiden müsste, würde ich immer lieber frei arbeiten. Nur dann habe ich das Gefühl, dass wir künstlerisch das machen können, was wir wollen.“

von Janne Hagge Ellhöft