Kiezspaziergang durch Kreuzberg: Eine Mischung aus urbaner Choreografie, Telefonflirt und Selbsterfahrungstrip.
Wer das Programm des PAF auf eigene Faust erkunden will, kann sich durch Kiezspaziergänge und Wanderwege inspirieren lassen. Der Zuschauer bekommt eine Route und wird sich dann selbst und dem Happening im urbanen Raum überlassen. Auf dem Weg durch Kreuzberg wird man Zeuge eines Beziehungsstreits, kann im HAU2 einen direkten Draht zu Heiner Müller aufnehmen und im Projektraum Ventilator 24 Hass, Gewalt und Trump im Reißwolf versenken.
Wer das Programm des PAF auf eigene Faust erkunden will, kann sich durch Kiezspaziergänge und Wanderwege inspirieren lassen. Der Zuschauer bekommt eine Route und wird sich dann selbst und dem Happening im urbanen Raum überlassen. Auf dem Weg durch Kreuzberg wird man Zeuge eines Beziehungsstreits, kann im HAU2 einen direkten Draht zu Heiner Müller aufnehmen und im Projektraum Ventilator 24 Hass, Gewalt und Trump im Reißwolf versenken.
von Friederike Oertel
„I am reality“ von die elektroschuhe
Erste Station: Blücherplatz, Eingang zur Poco-Domäne. Ein paar Passanten versammeln sich auf dem Vorplatz. An einem Imbiss wird „fresh juice to go“ verkauft. Ein Pärchen verlässt das Möbelkaufhaus, auf den Schultern eine in Folie verpackte Matratze. Die Frau trägt ein weißes Brautkleid, der Mann einen abgetragenen Nadelstreifenanzug. Ein paar Worte fallen, plötzlich entbrennt ein Streit.
Der Wortwechsel wird zur Handgreiflichkeit. Eine Kundin mit Pinsel und Farbroller auf dem Arm schaut irritiert herüber. Der Übergang von sozialer Situation zur Kunstaktion ist fließend. Das Schubsen des Pärchens geht in raumgreifende Bewegungen über und entwickelt sich zu einer Art Tanzperformance. Sie taumeln, zucken und springen in grotesker Weise umeinander herum und aufeinander zu. Als das Playback einsetzt, wird der urbane Raum endgültig zur Bühne – für „I am reality“ von der Berliner Gruppe die elektroschuhe.
"I am reality" © Friederike Oertel |
Aus dem Lautsprecher kommt collageartiges Stimmgewirr, manchmal auch ein Walzer. Die Frau kramt unter ihrem Hochzeitskleid ein Shirt mit Skelett-Aufdruck hervor. Es macht Peng! Peng! und das Pärchen beschießt sich mit imaginären Pistolen. Im Hin- und Her löst sich die Verpackung der Matratze, füllt sich mit Luft und steigt wie ein Ballon über die Köpfe. Aus dem Inneren der Matratze dringen einzelne Schaumstoffstücke – das Private wird öffentlich und der Zuschauer zum Voyeur.
„Du bist analog, funktionierst analog, also küss mich analog“, schreit die Braut im Skelettkostüm, um sich Sekunden später zu widersprechen: „Du bist überhaupt nicht analog“. So genau wollten wir es gar nicht wissen. Oder etwa doch? Der Saftverkäufer hat seine Arbeit unterbrochen und schaut interessiert bis verstört herüber. Immer mehr Menschen bleiben stehen, irritiert und trotzdem fasziniert. „Damit verdient ihr kein Geld“, ruft ein Mann vom Rand der Szenerie und löst Gelächter aus. Ist das noch Teil der Performance?
„Die Müllermatrix“ von Interrobang
Es geht weiter über die Brücke am U-Bahnhof Hallesches Tor, entlang des Landwehrkanals. Die tiefstehende Sonne taucht den Feierabendverkehr in warmes Licht. Im Foyer des HAU2 stehen acht quadratische Tische in einer akkuraten Linie nebeneinander. Darauf jeweils ein altes Tastentelefon, eine Schreibtischlampe im Retro-Stil, ein aufgeklappter Notizblock, ein Kugelschreiber. Die Anordnung erinnert an ein Callcenter. „Guten Tag, mein Name ist Müller“, krächzt eine Stimme aus einem Headphone, die den Telefonhörer ersetzen. „Schön, dass du hier bist, mach es dir bequem.“
Die Stimme gehört Heiner Müller. Mit einer O-Ton-Montage holt die Performance-Gruppe Interrobang den verstorbenen Dramatiker zurück in die Gegenwart. Doch Müller scheint zu wissen, dass er nur eine „Menschmaschine“ ist und fragt: „Wie soll ich meine Gegenwart in diesem Niemandsland erklären, hier in diesem Telefon?“, um dann festzustellen: „Meine Texte müssen umgewälzt werden“. Es rauscht und knackt in der Leitung.
„Wie wollen wir anfangen?“, fragt die Stimme der Kunstfigur, um sogleich drei Themenvorschläge zu unterbreiten. Der Zuhörer entscheidet per Tastenwahl, ob es um Theater, die Festung Europa oder Ökonomie gehen soll. Die Wörter sind collageartig zusammengeflickt, mal ist seine Stimme markant, mal laut, dann leise und oft nur schwer zu verstehen. Wählt man die Festung Europa, erzählt Müller, „dass die, auf deren Kosten man lebt, dem nicht ewig zusehen werden“. Es folgen Anekdoten aus seiner Schulzeit und ein Monolog über die Inflation von Information, bevor Müller zur ultimativen Erkenntnis gelangt: „Man muss irgendwann begreifen, dass nur die Kunstwerke, die auch technologisch auf der Höhe sind, politisch was bewirken können.“
Ob er das schafft, bleibt unklar, zumal viele Details im Rauschen untergehen. Doch zumindest für einen Moment war Müller ganz nah, im Kopf, im Ohr.
parapetto____gemelos2000 & guests. Tag I/V
Franz J. Hugo © Friederike Oertel |
Mitten auf dem Fußweg hat er eine Versuchsanordnung installiert, die aus zwei Betonwannen, zwei Wassereimern, einem Reißwolf und einem Stehpult auf Rollen besteht, darauf ein Stapel Buntpapier. Auf dem Fußboden verteilt liegen keimende Kartoffeln mit langen, knorpeligen Wurzeln. Ohne ein Wort zu verlieren, schert er sich die dunklen Haare, die in kleinen Büscheln auf dem Gehweg landen.
Mit schwarzem Filzstift schreibt er „Hass“ auf einen Zettel, um ihn dann im Reißwolf zu versenken. Es folgen Mord, Gier, Gewalt, Krieg, Konsum. Danach zuckelt er mit seinem Rollator los, um sich von jedem der Zuschauer ein weiteres Wort aufschreiben zu lassen. Ausnahmslos alle machen mit und es wird klar, dass sich die Zuschauer als Teil einer urbanen Gesamtchoreografie begreifen. Auch Neid, Rassismus, Vergewaltigung und Trump werden durch den Reißwolf gejagt, um anschließend im Betonzuber mit Gipspulver, Wasser und den Haarbüscheln zu grauem Schlick verarbeitet zu werden. Und weil das Ganze noch nicht bizarr genug ist, greift der Künstler hinein und klatscht sich die Masse auf den Kopf und über den Körper, reißt dann seinen Kittel auf und gibt lange, schmerzerfüllte Laute von sich. Das Ergebnis atmet den Geist von Fluxus und Happening. Unklar bleibt, welche Rolle der Zuschauer einnimmt. Was machen aus dem hingeworfenen Eindrücken, der provozierten Verunsicherung? Einfach nur Angaffen? Doch schon gibt’s Applaus – und Abgang in die laue Berliner Frühsommernacht.