Samstag, 17. Juni 2017

Henne oder Ei?

Im Theater Thikwa erarbeiten in ur.kunft Menschen mit und ohne Behinderung eine Tanzperformance über die Ursprünge der Welt. Eine körperliche Genese von Vergangenheit und Zukunft.

ur.kunft
© David Baltzer
 von Janne Hagge Ellhöft

Zunächst ist es nur ein zaghaftes Schwanken der Körper, ein leises Schnalzen und Schmatzen der Münder. Dann folgt ein Stampfen, noch eins, ein Chor aus Lauten schwillt an. Füße, die sich über den Boden schieben, Arme, die sich in die Höhe schwingen, langsam den Raum erforschen. Gemeinschaftliche Gebilde der Körper entstehen, um sich im nächsten Moment wieder aufzulösen. 

Das Theater Thikwa hat sich seit nunmehr 26 Jahren der inklusiven Theaterarbeit verschrieben. Menschen mit und ohne Behinderung verhandeln auf der Bühne künstlerische und gesellschaftliche Fragen, in denen die besondere Unterschiedlichkeit der Darsteller*innen ebenso wie deren Gemeinsamkeiten zum Ausdruck kommen. Bei der Tanzperformance ur.kunft führte die japanische Butoh-Tänzerin Yuko Kaseki Regie, die ebenfalls auf der Bühne performt. Gemeinsam mit dem siebenköpfigen Ensemble schafft sie eine körperliche Genese von Vergangenheit und Zukunft. 

Die zuckenden Körper der Performenden winden sich die Stufen des seitlich von Gassen gesäumten Bühnenbildes herunter, rollen dann über den weißen Tanzboden hinweg. Wie ein Mond schwebt über dieser Szenerie eine überdimensionale, transparent-leuchtende Kugel. Im Hintergrund wummern technoide Soundcollagen von Antonis Anissegos, die ebenso wie Kostümbild und Videoprojektion zu einer gewissen Sci-Fi-Ästhetik beitragen.

Aber was war eigentlich zuerst da, die Henne oder das Ei?, fragt ein Performer, der kurzerhand in die Rolle eines beatboxenden Moderators schlüpft und damit einen verwirrenden Bruch in der Dramaturgie des Abends einleitet. Plötzlich ist da ein Kameramann mit analoger Handkamera, unterlegt mit einem wirren Song-Medley, das Fernsehshow-Charakter hat. Mehrere Performer*innen setzen nacheinander zu gesprochenen Loops an. Und nach kurzem Chaos erwächst aus der Wiederholung und Gleichzeitigkeit der Antworten erneut eine spannende Vielstimmigkeit. 

ur.kunft
© David Baltzer
So, wie die Körper zwischen verschiedenen Bewegungsqualitäten changieren, so changieren die Bilder, die diese hervorrufen. Da ist mal ein religiöses Ritual, eine genussvolle Alltagshandlung oder eine philosophische Auseinandersetzung mit dem Ursprünglichen, sowohl in kleinen als auch in großen Denkzusammenhängen. Darin bleibt gleichermaßen Raum für Individuen als auch für die Gemeinschaft. Natürlich sticht an mancher Stelle die Virtuosität der professionellen Tänzer*innen Hikaru Inagawa und Yuko Kaseki hervor. Trotzdem gelingt es der Choreographie, alle Beteiligten – Nico Altmann, Heidi Bruck, Lia Massetti, Anne-Sophie Mosch, Tim Petersen und Stephan Sauerbier – auf der Bühne gleichberechtigt agieren zu lassen.

Dass Inklusion, in aller Widersprüchlichkeit des Begriffs, eben nur an ganz bestimmten Orten und nicht überall stattfindet, ruft diese Tanzperformance ebenso schmerzlich wie hoffnungsvoll ins Bewusstsein. In diesem Moment im Theater Thikwa aber zählt vor allem die Qualität der Darbietung, die wir der Zusammenarbeit von acht Menschen mit und ohne Behinderung zu verdanken haben – weil sie spannende Tänzer*innen- und Performer*innen-Persönlichkeiten sind. 


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ur.kunft ist noch bis heute um 20 Uhr im Theater Thikwa in der Fidicinistraße 40 in Berlin-Kreuzberg zu erleben. Heute findet im Anschluss an die Vorstellung ein Nachgespräch mit Theaterscoutings Berlin statt.