Samstag, 17. Juni 2017

Im Netz

Mira Fuchs räkelt sich auf meinem Schoß. Streichelt ihre Brüste, ihre Beine und was dazwischenliegt. Sie guckt mir lange in die Augen. Für einen Moment glaube ich ihr. Ich bin nicht wie die Anderen, bin etwas Besonderes – für einige Augenblicke. Sie beugt sich tief über mich, drückt mir zärtlich einen Kuss auf die Wange und flötet: „Thank you, have a good night!“. Mein Sitznachbar ist dran. Auch er bekommt einen Lapdance. Wieder ein Kuss auf die Wange, wieder „Thank you, have a good night!“. Der Reihe nach arbeitet sie den Stuhlkreis ab. Fragt alle sechsunddreißig Zuschauer*innen, ob sie einen Lapdace möchten. Sechs lehnen ab. Alle, die annehmen, bekommen unter den Blicken der anderen etwa dreißig Sekunden von Mira Fuchs’ Aufmerksamkeit.

© Damien Stephens

von Talea Scholz

Mira Fuchs ist ein Pseudonym. Kein*e Stripper*in verrät seinen*ihren echten Namen. Die Performerin Melanie Jame hat selbst acht Jahre als Stripperin gearbeitet. Ihre Erfahrungen bilden die Grundlage des Stücks „Mira Fuchs“. Jame setzt sich mit Zeit, Körper und Zuwendung als Ware auseinander. Im Rahmen des Striptease entwickelt sich ein Spiel zwischen Ökonomie und Gefühl. Nähe als Geschäft. Verlangen wird berechnet.

„Mira Fuchs“ berichtet aus zwei Perspektiven von der Realität des Stripclubs. Die erste ist die der Stripperin Mira Fuchs. Sie beschreibt die Regeln im Club und erläutert die Strategien der Tänzer*innen. Poetisch berichtet sie vom Leben im Zwielicht des Nachtclubs. Die Zeit. Das Geld. Die Kunden. Der Sex. Die Drogen. In diesen Momenten bekommt man eine Ahnung von Mira Fuchs’ Leben und Fühlen. Momente voller Distanz: Eine Performerin steht auf einer Bühne, das Publikum im Dunkeln hört zu. 


Die zweite Perspektive ist die praktische: Mira Fuchs tanzt. Mit ihrem Lapdances zersetzt sie die Einheit des Publikums, zerbricht sie in sechsunddreißig Einzelteile. Sechsunddreißig Momente der Zweisamkeit. Zweisamkeit, die doch in Wirklichkeit Einsamkeit ist. Denn Mira Fuchs ist professionell. Intimität ist ihr Beruf. Sie hält ihre private Seite hinter einem Lächeln und ihrem Namen verborgen. Lässt uns mit der Situation und unseren Emotionen alleine. Beobachtet von einem schweigenden Publikum. 


Es ist eine seltsame Mischung aus Nähe und Distanz, die Mira Fuchs zu ihrem Publikum aufbaut. Sie zeigt uns den doppelten Boden, die Fallstricke des Geschäfts, nur um uns wenig später hineinstolpern zu lassen. Sie gewährt uns Einblicke in die Ökonomisierung von Aufmerksamkeit und Zuneigung. Erklärt das Spiel und seine Mechanismen. Kaum beginnt sie zu tanzen, gehe ich ihr trotzdem ins Netz. Wenn sie mich ansieht, glaube ich ihr für einen Moment. Glaube unsere Intimität. Aufmerksamkeit ist eine schrecklich verführerische Sache. 


Den anderen scheint es ähnlich zu gehen. Es herrscht eine angespannte Stimmung im Raum. Kaum jemand wendet je den Blick von Mira Fuchs ab. Niemand spricht. Alle scheinen bemüht, ein Maximum an Souveränität auszustrahlen. Das Licht ist hell. Jeder Tanz wird von allen genau beobachtet. Fünfunddreißig Blicke sezieren die intime Situation. 


© Damien Stephens
Diese Atmosphäre hat wenig mit der eines Stripclubs zu tun. Zuschauer*innen werden zu Angeblickten. Darum geht es Fuchs. Sie will Rollen und Machtgefüge stören. Lust und sexuelles Selbstverständnis in Frage stellen. Wie verhalte ich mich, wenn ich weiß, dass ich beobachtet werde? Was machen die Blicke der anderen mit meinem sexuellen Empfinden? Wie gehe ich mit Intimität um?

Mira Fuchs ist Dirigentin eines Stückes, in dem die Hauptrolle zunehmend unklar wird. Je weiter der Abend voran schreitet, desto mehr beschleicht mich der Verdacht, dass ich es bin, die hier vorgeführt wird. Mein Bedürfnis nach Aufmerksamkeit, Nähe, Exklusivität. Intimität ist etwas Anderes, erlebt man sie unter den scharfen Blicken fremder Menschen. Am Ende bleibt die Frage: Wer hat sich hier eigentlich entblößt?